Direkt zum Hauptbereich

Der Weihnachtsbruder

Vor kurzem wurde die Frage gestellt, was Besinnlichkeit für mich bedeutet. Seitdem reise ich Kraft meiner Gedanken zurück durch die Zeit und versuche mich an überaus besinnliche Momente zu erinnern, um auch mir selbst eine befriedigende Antwort darauf geben zu können. Bei diesen Ausflügen in die Vergangenheit kommt mir immer und immer wieder eine kleine Geschichte in den Sinn, die den Ausdruck Besinnlichkeit in Verbindung mit meiner Person sehr gut beschreibt.

Es war in den achtziger Jahren kurz vor dem Heiligen Abend, ich war ein junger Mann von Mitte Zwanzig. Eine gute Bekannte hatte Probleme mit ihrem fünfjährigen Sohn, der zu diesem Zeitpunkt unausstehlich war und auch mit dem Hinweis auf den Weihnachtsmann, der nur artige Kinder beschenkt, kam sie nicht weiter. „Den Weihnachtsmann gibt es ja gar nicht“, lautete seine stoische Antwort. Da ergab es sich, dass mein Bruder bei der Familie unserer Cousine den Santa Claus geben sollte und sich ein passendes, schickes Kostüm zulegte. Kurzentschlossen wurde er von mir engagiert, einen Tag vor Heiligabend in voller Weihnachtstracht an der Wohnung meiner Bekannten vorbei zu gehen.

Unter einem Vorwand platzierte ich den kleinen verbohrten Jungen rechtzeitig am Wohnzimmerfenster im 2. Stock des Mehrfamilienhauses, als es plötzlich zu schneien begann. Dann brach die Dunkelheit langsam herein und das Licht der angehenden Straßenlaternen ließ die Schneeflocken unwirklich in der Luft tanzen. Die parkähnliche Umgebung war menschenleer und färbte sich weiß - nur der wellenförmig angelegte rot gepflasterte Fußweg war noch schemenhaft als solcher erkennbar - als sich aus dem Halbdunkeln kommend eine imposante Gestalt schälte. Der Weihnachtsmann. Bedächtig schritt er den Weg entlang, in der linken Hand einen großen Jutesack und rechts eine Rute aus Reisig haltend. Die Augen des Knaben neben mir wurden immer größer und er hielt die Luft an. Es war eine beeindruckende Vorstellung meines Bruders und ein Glücksfall, dass das Wetter mitspielte. Dann hielt der Weihnachtsmann inne, blickte ganz langsam hoch zum Fenster und drohte mit der Rute, als wisse er genau, dass sich hinter den Scheiben ein ungezogenes Kind befand. Was der Junge in dem Augenblick dachte, weiß ich nicht, werde aber selbst diesen mystischen Anblick nie vergessen. In diesem Moment war der Weihnachtsmann für mich absolut real, ich war in solch besinnlicher Stimmung, dass ich Stein und Bein geschworen hätte, er wäre mit einem Rentierschlitten vorgefahren.

Meiner Bekannten stand übrigens ein friedvolles, heimeliges Christfest mit einem geläuterten und äußerst artigem Sohn bevor.



Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

So dumm, dass mich die Schweine beissen

Viele Redewendungen, die regelmäßig in unseren täglichen Sprachgebrauch einfließen, begleiten uns seit hunderten von Jahren. Von etlichen dieser Sprichwörter ist die Herkunft und Entstehung bekannt, dafür sorgten unter anderem solch Koryphäen wie Dr. Wort oder der Erklär-Bär. Für die Wortfindung „so dumm dass ihn die Schweine beißen“ gibt es allerdings keinen allgemeingültigen Herkunftsnachweis, so dass ich in meinem Geburtsort lange Zeit als Synonym für diese Redewendung galt. Und das kam so... In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts waren Hausschlachtungen noch weit verbreitet, auch meine Großeltern väterlicherseits praktizierten diese Art der Fleisch- und Wurstgewinnung. Die Schlachtungen waren für die Verwandtschaft immer große Feste, wurde doch im Anschluss daran groß aufgefahren und emsig geschlemmt, was man vorher eigenhändig mit Hilfe eines Metzgers an Wurst, Mett und Fleisch verarbeitet hat. Bei der letzten Hausschlachtung, an der ich persönlich teilnahm,

Adventskalender - Jede Tür hat ihr Pläsier

Der Adventskalender, ein Zeitmesser, der die Wartezeit bis zum Weihnachtsfest verkürzen und die Vorfreude steigern soll. Aus einer lutherischen Sitte Deutschlands stammend, lassen sich die Ursprünge bis in die Mitte des 19 Jahrhunderts zurückverfolgen - der erste selbstgebastelte Adventskalender stammt vermutlich aus dem Jahr 1851. Seit wenigen Jahren findet man Adventskalender in der Vorweihnachtszeit auch als virtuelles Erlebnis im Internet, nicht selten verbunden mit Gewinnspielen, an denen auch ich regelmäßig teilnehme. Ende des Jahres 2016 erhielt ich zwischen den Feiertagen via eMail eine Nachricht und was ich dort lesen konnte, versetzte mich in helle Aufregung. Bei dem Adventskalender zweier großer hannoverschen Tageszeitungen bin ich als einer von 24 Kandidaten für die Verlosung eines Autos bestimmt worden. Natürlich war die Freude groß, ich sah mich schon als stolzer Besitzer des roten Flitzers, standen doch die Chancen mit 1:23 gar nicht so schlecht. Die Gewinnermittlun

Die Wundertüte

In meiner Kindheit wurden aus finanziellen Gründen größere Wünsche selten erfüllt, wohl dem, der in den sechziger und siebziger Jahren gutbetuchte Verwandte hatte. Die hatten wir nicht, aber dafür einen organisierenden Onkel, Gott hab ihn selig. Er war ein höchst trinkfester, die Zigarettenmarke Reval Kette rauchender, sehr dicker Mann, darum verwundert es wohl nicht, dass er von allen Freunden und Verwandten „Dicker“ gerufen wurde. Von uns Kindern natürlich Onkel Dicker. Eine Zeitlang versuchte ich, diesen Spitznamen in Onkel Kleenex zu ändern, getreu der damaligen Werbung eines Küchentuchs, das da „Kleenex - Dick und Durstig“ lautete. Leider vergeblich. Onkel Dicker arbeitete seinerzeit auf dem Flughafen Hannover/Langenhagen in einer Frachtabfertigung. Es kam nicht selten vor, dass die ankommende Ladung beschädigt und es nicht mehr nachvollziehbar war, wo und wie diese Beschädigung überhaupt entstandenen ist. In diesen Fällen griffen Onkel Dicker und seine Kollegen gern mal zu